In einem kürzlich ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Rechtssache C-505/19 vom 12. Mai 2021) wurde entschieden, dass Personen, die innerhalb der Europäischen Union (EU) aufgrund einer Interpol Red Notice festgenommen wurden, nicht aus der EU ausgeliefert werden dürfen, wenn in einem der EU-Mitgliedsstaaten bereits eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung in Bezug auf die der Red Notice zugrunde liegende Straftat ergangen ist. Hintergrund dieser Entscheidung ist das im Schengen-Raum geltende Verbot der Doppelbestrafung (Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ), Art. 50 der EU-Charta der Grundrechte).

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Rücknahme der Interpol-Ausschreibung wg. Doppelbestrafung

Im vorliegenden Fall ging es um einen deutschen Staatsbürger (im Folgenden „WS“), einen ehemaligen Geschäftsführer eines großen Unternehmens. Im Jahr 2012 beantragten die USA eine Interpol Red Notice gegen ihn wegen Betrugs-, Geldwäsche- und Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit seiner Unternehmenstätigkeit. Daraufhin erließ Interpol im Auftrag der USA die Red Notice zur Festnahme von WS, der allerdings bereits im Jahr 2009 mit einem in Deutschland eingeleiteten Verfahren wegen desselben Vorwurfs konfrontiert worden war. Dieses Strafverfahren war damals gegen Zahlung einer Geldauflage (nach § 153a Abs. 1 StPO) eingestellt worden. WS machte geltend, dass das Vorgehen der USA, eine Interpol-Fahndung gegen ihn einzuleiten, die Interpol-Bestimmungen zum Verbot der Doppelbestrafung verletze.

Das Bundeskriminalamt (BKA) schloss sich der Auffassung an, dass eine Auslieferung an die USA und eine dortige Verurteilung eine Doppelbestrafung darstellen würde, und beantragte deshalb die Rücknahme der Interpol-Ausschreibung. Im Jahr 2013 konnten die deutschen Behörden die USA jedoch nicht davon überzeugen, das Fahndungsersuchen zu löschen. Die Nichtlöschung der Red Notice schränkte WS’ Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums und der übrigen Europäischen Union erheblich ein, da ihm bei der Ausreise aus Deutschland eine Verhaftung drohte.

Im Jahr 2017 erhob er deshalb vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundeskriminalamt. Das BKA fungiert als nationale Zentralstelle für Interpol in Deutschland. WS erhob seine Klage aus zwei spezifischen Gründen: Erstens sei das Fortbestehen der Interpol Red Notice ein unrechtmäßiger Eingriff in sein Recht auf Freizügigkeit in Europa, und zweitens verstoße die weitere Verarbeitung der in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten durch die europäischen Mitgliedstaaten gegen die geltende Strafverfolgungsrichtlinie.

Das Gericht in Wiesbaden legte die Angelegenheit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor und ersuchte ihn um eine Vorabentscheidung über sechs Fragen zu dieser Fallkonstellation. Vorabentscheidungsverfahren dienen dazu, dass der Europäische Gerichtshof eine Entscheidung darüber trifft, wie das europäische Recht auszulegen ist. Diese Verfahren werden auf Ersuchen eines Gerichts eines EU-Mitgliedstaats eingeleitet. Die vom EuGH getroffene Entscheidung ist sodann verbindlich, und das Gericht des EU-Mitgliedstaates ist verpflichtet, sie entsprechend zu vollstrecken.


Das Verbot der Doppelbestrafung und der doppelten Strafverfolgung

Mit der Rechtskraft des Urteils tritt ein sogenannter Strafklageverbrauch ein: So untersagt das Verbot der doppelten Strafverfolgung die Kumulierung von strafrechtlichen Verfolgungen und Sanktionen gegen dieselbe Person wegen derselben Straftat (EuGH, Urteil vom 20.03.2018, Rechtssache C-537/16, Rn. 27). Sie dient der Rechtssicherheit, indem die betroffene Person darauf vertrauen kann, nach einer rechtskräftigen Entscheidung nicht erneut wegen derselben Straftat verfolgt zu werden. In Artikel 50 der EU-Grundrechtecharta heißt es:

Das Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden

„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“

Diese EU-Grundrechtecharta gilt für die EU-Mitgliedstaaten und die übrigen Länder des Schengen-Raums. Eine weitere Quelle für eine rechtliche Vereinbarung zwischen den Schengen-Staaten ist Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ), der lautet:

Verbot der Doppelbestrafung

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

Einer der Punkte in diesem speziellen Fall, der die Doppelbestrafung betrifft, war, dass die Staatsanwaltschaft München eine Geldauflage akzeptierte und das Verfahren einstellte, sodass die Angelegenheit nicht durch ein gerichtliches Urteil beschieden wurde. Dies ist nach deutschem Recht gemäß § 153a Strafprozessordnung möglich. Der EuGH hatte in früheren Entscheidungen (EuGH, Urteil vom 11.02.2003, Rs. C-187/01 und C-385/01, Rn. 48) bereits entschieden, dass eine erneute Strafverfolgung in solchen Fällen ausgeschlossen ist:

„Im Lichte der vorstehenden Erwägungen ist auf die Fragen zu antworten, dass das in Artikel 54 SDÜ verankerte Verbot der doppelten Strafverfolgung auch für Verfahren gilt, die eine weitere Strafverfolgung ausschließen, wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren, bei denen die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats eine in diesem Staat eingeleitete Strafverfolgung ohne Einschaltung eines Gerichts einstellt, sobald der Beschuldigte bestimmte Verpflichtungen erfüllt und insbesondere einen von der Staatsanwaltschaft festgelegten Geldbetrag gezahlt hat.“ (EuGH, Urteil vom 11.02.2003, Rechtssachen C-187/01 und C-385/01, Rn. 48)


Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH entschied in dem WS betreffenden Verfahren jedoch auch, dass die Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die in einer Red Notice enthalten sind, in Fällen, in denen eine Strafverfolgung aufgrund von Doppelbestrafung ausgeschlossen ist, gleichwohl zulässig ist. Denn ohne die Verarbeitung solcher Daten könnten die anderen Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob in dem betreffenden Fall eine Doppelbestrafung droht. Der Datenverarbeitung sind jedoch Grenzen gesetzt, da sie den Anforderungen der Europäischen Richtlinie 2016/680 genügen muss. Zu diesen Einschränkungen gehört, dass die Daten nur so lange verarbeitet werden dürfen, wie es auch erforderlich ist. Eine Verarbeitung und Speicherung der Daten ist dann nicht mehr erforderlich, sobald gerichtlich festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung tatsächlich eingreift.

Bis zum Zeitpunkt dieser gerichtlichen Feststellung dürfen auch Maßnahmen, wie die vorläufige Festnahme der in der Red Notice ausgeschriebenen Person, durchgeführt werden, soweit diese für die Überprüfung unerlässlich sind. Denn insoweit sei festzuhalten, „dass eine vorläufige Festnahme zwar eine Beschränkung der Freizügigkeit der betroffenen Person darstellt. In Fällen, in denen ungewiss ist, ob das Verbot der Doppelbestrafung greift, ist aber davon auszugehen, dass eine solche Beschränkung durch das legitime Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit dieser Person gerechtfertigt ist.“ (EuGH, Urteil vom 12.05.2021, Rs. C-505/19, R. 86)

Sollte die gerichtliche Überprüfung ergeben, dass das Verbot der Doppelbestrafung tatsächlich greift, so ist die Speicherung der in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten nicht mehr erforderlich. Dann kann die betreffende Person die unverzügliche Löschung dieser Daten aus den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten beantragen. Sollten die Daten gleichwohl weiterhin gespeichert werden, so müssen sie mit einem Hinweis versehen werden, dass die Person wegen des Verbots der Doppelbestrafung wegen derselben Taten nicht mehr verfolgt werden darf.


Die Auswirkungen dieser Entscheidung

Mit dieser Entscheidung wurde der Schutzbereich des Verbots der Doppelbestrafung erweitert. Sie bekräftigt die Grundsätze, die in Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens sowie in Artikel 50 der EU-Grundrechtecharta niedergelegt sind, und besagt, dass eine zum Strafklageverbrauch führende Entscheidung nicht zwingend ein gerichtliches Urteil verlangt, wenn ein anderer Mechanismus innerhalb des Mitgliedstaats zu einer das Verfahren beendenden Entscheidung in der Angelegenheit geführt hat (so z. B. die Zahlung der Geldauflage durch WS und damit die Einstellung des Verfahrens gemäß § 153a StPO).

Dieser Fall macht deutlich, wie sich Entscheidungen von Drittländern (anderen Interpol-Staaten) auf die Freizügigkeit und andere Rechte von Unionsbürgern auswirken können. Drittstaaten, wie die USA, können Interpol Red Notices herausgeben, aber ein Schengen-Staat kann die anschließende vorläufige Festnahme durchführen. Auch wenn die Person ausschließlich in dem Drittstaat strafrechtlich verfolgt werden kann, werden ihre unionsbürgerlichen Rechte durch die Ausstellung der Interpol Red Notice erheblich beeinträchtigt.

Zuletzt wird die Bedeutung von Artikel 87 der Interpol-Regeln für die Datenverarbeitung erkennbar. Darin heißt es, dass die Mitgliedstaaten von Interpol nur dann verpflichtet sind, eine Person vorläufig festzunehmen, wenn dies nach dem Gesetz zulässig ist. Wenn Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Interpol Red Notice und ihrer Wechselwirkung mit anderen anwendbaren internationalen Verträgen bestehen, wie in dieser Angelegenheit hinsichtlich des Verbots der Doppelbestrafung, dann muss dies in Frage gestellt werden. Interpol Red Notices dürfen darüber hinaus nicht aus politisch motivierten Gründen ausgestellt werden. Sie müssen sich auf eine schwere Straftat nach dem allgemeinen Recht beziehen – die Schwelle hierfür ist eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwei Jahren oder mit einer schwereren Strafe bedroht ist (gem. Art. 83 der Interpol-Regeln für die Verarbeitung von Daten). Interpol Red Notices können jedoch missbräuchlich verwendet werden, sodass in solchen Fällen umgehend fachkundiger Rechtsrat eingeholt werden sollte.


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