Seit geraumer Zeit schwelt ein Streit zwischen Polen und der Europäischen Union, der sich immer weiter zuspitzt. Derzeit hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit der schwierigen Frage zu befassen, ob ein von Polen ausgestellter Europäischer Haftbefehl noch allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, wenn das rechtliche Fundament im polnischen Staat zusehends erodiert und begründete Zweifel an der Gesetzmäßigkeit und Unabhängigkeit polnischer Gerichte bestehen. Zu diesem Zwecke erarbeitete der EuGH eine zweistufige Prüfung: Als Erstes müsse festgestellt werden, ob wegen bestehender Mängel im Justizsystem das Grundrecht auf ein faires Verfahren gefährdet sei. Im Anschluss müsse sorgfältig geprüft werden, ob im konkreten Fall Auswirkungen auf das Verfahren des Betroffenen zu erwarten sind.

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Hintergrund

Polen hat den EuGH in den letzten Jahren wiederholt beschäftigt, was vorwiegend mit der hoch umstrittenen Justizreform zusammenhängt, die von der rechtsorientierten PiS-Regierung initiiert wurde. Diese wird vielseitig für den Abbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen kritisiert. Ein Kernstück dieser Reform war die Schaffung einer Richter-Disziplinarkammer am Obersten Gericht des Landes zur Maßregelung von Richtern. Dieses System hat der EuGH bereits im Sommer 2021 für unionsrechtswidrig erklärt, da die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz nicht mehr garantiert sei (Urteil v. 15.07.2021, C-791/19). Denn diese Disziplinarkammer kann dazu genutzt werden, Richter für unliebsame Entscheidungen zu maßregeln, sodass hierdurch ein erheblicher politischer Druck und Einfluss entstehen kann, was gegen EU-Regeln verstößt. Polen kündigte zwar an, die Disziplinarkammer in dieser Form abzuschaffen, hielt sich jedoch nicht an diese Ankündigung, weshalb der EuGH Ende Oktober 2021 per einstweiliger Anordnung ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von einer Million Euro gegen Polen verhängte (Beschluss v. 27.10.2021, C-204/21 R Kommission/Polen).

Doch nicht nur dieser Streit zwischen der EU und Polen ist besorgniserregend, sondern auch ein in der Zwischenzeit von Polens Verfassungsgericht gefälltes Urteil. Darin stellte es sich auf den Standpunkt, dass Polen bestimmte Eil-Beschlüsse des EuGH überhaupt nicht mehr beachten müsse, wenn es um das eigene Justizsystem gehe, denn dieses gehöre nicht zu den EU-Kompetenzen. Folglich könne der EuGH darüber auch gar nicht entscheiden. Diese Ansicht bestätigt sich darin, dass Polen die erwähnte Disziplinarkammer bisher nicht abgeschafft hat bzw. sich ausdrücklich weigert, das im Eilverfahren angeordnete Zwangsgeld zu zahlen.

Ein weiteres Urteil, dass die angespannte Lage zwischen Polen und der EU verschärft und sich auf das Justizsystem Polens bezieht, ist am 16. November 2021 veröffentlicht worden (Az. C-748/19). Der EuGH urteilte, dass eine weitere polnische Regelung gegen Unionsrecht verstößt und damit unzulässig ist. Denn nach polnischem Recht ist derzeit der Justizminister zugleich auch der Generalstaatsanwalt, der die Befugnis hat, nach freiem Ermessen Richter an höhere Gerichte abzuordnen. Ebenso kann er diese dort ohne Nennung von Gründen auch jederzeit wieder abberufen. Diese Befugnis biete eine zu große Möglichkeit politischer Einflussnahme, sodass die notwendige Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte nicht gewahrt sei. Vielmehr muss sichergestellt sein, dass eine Abordnung niemals als Instrument politischer Kontrolle von justiziellen Entscheidungen eingesetzt werde.


Aktuelle Rechtslage

Hinsichtlich der Frage nach der Gültigkeit der von Polen ausgestellten Europäischen Haftbefehle (EuHB) hatte der EuGH zuletzt im Dezember 2020 Stellung bezogen. Grund hierfür war die Vorlage eines niederländischen Gerichts mit der Fragestellung, ob die Vollstreckung eines EU-Haftbefehls aus Polen abgelehnt werden darf, wenn er von einer Stelle ausgestellt wurde, deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist. Denn wenn diese Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist, dann ist das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 47 Abs. 2 der Grundrechte Charta) verletzt.

Grundsätzlich ist ein Europäischer Haftbefehl von der zuständigen Justizbehörde des Mitgliedsstaates auszustellen. Damit die ausstellende Behörde Justizbehörde im Sinne des Unionsrechts sowie des Europäischen Rahmenbeschlusses 2002/584 ist, setzt dies jedoch voraus, dass sie unabhängig ist. Das bedeutet also, bestünde ein derartiges Ablehnungsrecht, würde damit ein anderer Staat der polnischen Behörde die Eigenschaft als „Justizbehörde“ absprechen.
Damals legte das niederländischen Gericht dem EuGH die Frage vor, weil es allgemeine und systemische Mängel im polnischen Rechtssystem angenommen hat, die eine Gefahr für die Gewährleistung des Rechts auf ein faires Verfahren begründen würden, sodass es diese Unabhängigkeit nicht als gegeben ansah.

Der EuGH fand klare Worte: solche allgemeinen und systemischen Mängel reichen nicht aus, um ein Ablehnungsrecht des ersuchten Staates zu begründen. Er betonte dabei die fundamentale Bedeutung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Anerkennung. Diese Grundsätze kämen gerade in der grundsätzlichen Pflicht zur Vollstreckung eines EuHB (Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses) zum Ausdruck. Eine Ablehnung der Vollstreckung komme nur aus denen im Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Gründen in Betracht. Auch könne eine Vollstreckung nur an solche Bedingungen geknüpft werden, die ebenfalls erschöpfend in Art. 5 des Rahmenbeschlusses aufgelistet sind. Die Ablehnung der Vollstreckung ist die Ausnahme und eng auszulegen.

Zweistufiges Prüfungsverfahren

Dem EuGH nach ist deshalb ein zweistufiges Prüfungsverfahren erforderlich:
In einem ersten Schritt muss geprüft werden, ob solche allgemeinen und systemischen Mängel im ausstellenden Staat, also Polen, vorliegen, die das Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtigen. Sofern dies der Fall ist, muss sodann in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob sich diese Mängel auch im konkreten Einzelfall auswirken. Dies müsse sich nämlich nicht zwangsläufig ergeben, sodass eine Verletzung des Rechts nicht automatisch angenommen werden könne. Hierbei ist insbesondere die persönliche Situation der auszuliefernden Person zu prüfen sowie die Art der Straftat und der dem EU-Haftbefehl zugrunde liegende Sachverhalt. Nur wenn sich aus dieser Einzelfallprüfung ergibt, dass eine echte Gefahr für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens besteht, darf die Vollstreckung des Haftbefehls verweigert werden.


Ausblick: Generelle [Un]Gültigkeit eines polnischen EuHB im Kontext der bisherigen Rechtsprechung

Die aktuell noch ausstehende Entscheidung über die Frage einer generellen Ungültigkeit polnischer EU-Haftbefehle steht damit in untrennbarem Zusammenhang. Denn diese Frage ist der konkreten Prüfungsfrage im Einzelfall mitsamt der Frage nach dem Prüfungsumfang (einstufig/zweistufig) vorgeschaltet.

Generelle Gültigkeit

Wenn entschieden wird, dass ein polnischer EuHB grundsätzlich wirksam ist, so verbleibt es bei der bisherigen Rechtslage. Gerichte haben demnach eine zweistufige Prüfung im Einzelfall vorzunehmen. Je nachdem, welche Feststellungen in diesem Urteil zu den rechtsstaatlichen Bedingungen in Polen getroffen werden, wäre es allenfalls denkbar, dass die erste Stufe der Feststellung allgemeiner und systemischer Mängel aufgeweicht und diese grundsätzlich angenommen werden könnten. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass in jedem Fall die einzelfallbezogene Prüfungspflicht (zweiter Schritt) bestehen bleibt.

Generelle Ungültigkeit

Wird hingegen entschieden, dass ein von Polen ausgestellter EuHB generell ungültig ist, so bestünde nicht nur ein allgemeines Ablehnungsrecht mit der Folge, dass kein anderer Mitgliedsstaat einen solchen Haftbefehl vollstrecken muss, sondern sogar eine allgemeine Ablehnungspflicht. Denn sonst würde ein offensichtlich rechtswidriger Justizakt ausgeführt, der die Rechtswidrigkeit der darauf beruhenden Folgemaßnahmen (Auslieferung und Inhaftierung im Zielstaat) indiziert und die Rechtsverletzung weiter vertieft. Um ein solch generelles Vollstreckungsverbot zu vermeiden, könnte allenfalls eine erneute Prüfungspflicht für das ersuchte Gericht in Betracht kommen, mit welcher der bisherige Grundsatz umgekehrt würde. Demnach wäre es denkbar, dass im Grundsatz von der generellen Ungültigkeit des Haftbefehls und mithin der Ablehnung der Vollstreckung auszugehen ist, jedoch im Einzelfall zu prüfen bleibt, ob unter Berücksichtigung der konkreten Umstände die Einhaltung der Rechte nicht ausnahmsweise doch gewährleistet ist.

Entscheidet der EuGH in diese Richtung und nimmt eine allgemeine Ungültigkeit an, so führt dies zu zahlreichen weiteren Fragen und Folgeproblemen. Von erheblicher Bedeutung dürften die drei Folgenden sein.

Problem 1: Durch die Annahme der allgemeinen Ungültigkeit würden nicht nur die allgemeinen Grundsätze gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Anerkennung umgangen bzw. im Falle der Etablierung einer etwaigen Prüfungspflicht jedenfalls umgekehrt werden. Vielmehr würde dies zu einer faktischen Aussetzung der Anwendung des Europäischen Rahmenbeschlusses 2002/584 führen. Nach diesem Rahmenbeschluss ist eine automatische Ablehnung der Vollstreckung nämlich nur dann möglich, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenden Grundsätze, einschließlich des Rechtsstaatsprinzips, vorliegt und der Europäische Rat diese Verletzungen in einem Beschluss förmlich feststellt. Ein solcher Beschluss des Europäischen Rates liegt jedoch (bisher) nicht vor, sodass die eigens aufgestellten Regeln umgangen würden.

Problem 2: Darüber hinaus könnte kein polnisches Gericht mehr als „Gericht“ bei der Anwendung sonstigen Unionsrechts, insbesondere von Art. 267 AEUV, angesehen werden. Denn – wie zu Beginn erläutert – würde dem polnischen Gericht als ausstellende Behörde aufgrund der mangelnden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit die Eigenschaft als „Justizbehörde“ abgesprochen werden, sodass auch keine gerichtliche Umsetzung und Anwendung von anderweitigem Unionsrecht stattfinden könnte.

Problem 3: Zudem bestünde ein erhöhtes Risiko der Straffreiheit für Täter, die versuchen, sich der Justiz durch Flucht in einen anderen Mitgliedsstaat zu entziehen. Denn diese hätten gerade keine grundsätzliche Vollstreckung und Auslieferung zu befürchten, sondern könnten davon ausgehen, nicht überstellt zu werden – ganz unabhängig davon, ob eine umgekehrte Prüfpflicht etabliert würde oder nicht. Denn auch in letzterem Fall würde es gerade dieser Prüfung und Begründung der ausnahmsweisen Vollstreckung des Haftbefehls bedürfen, in welcher der Nachweis der Gewährleistung der Rechte erst einmal geführt werden müsste.


Dilemma des EuGH

Demnach bleibt es spannend abzuwarten, wie der Europäische Gerichtshof entscheiden wird.

Ausgehend von den Urteilen der letzten Jahre, in denen wiederholt diverse Verstöße gegen Unionsrecht von Seiten Polens festgestellt wurden, die oftmals in engem Zusammenhang mit mangelnder Rechtsstaatlichkeit stehen, spricht einiges dafür, von einer unzureichenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit polnischer Gerichte auszugehen und mithin eine generelle Ungültigkeit polnischer EU-Haftbefehle anzunehmen. Insbesondere das erst jüngst ergangene Urteil, in dem festgestellt wurde, dass der Justizminister, der zugleich Generalstaatsanwalt ist, zu weitreichende Befugnisse hat, die eine politische Kontrolle und Einflussnahme ermöglichen, spricht schwerwiegend für diesen Lösungsweg. Denn insofern muss auch beachtet werden, dass der EuGH es vermeiden sollte, sich in Widerspruch zur eigenen Rechtsprechung zu setzen. Damit ist nicht die bisher erforderliche zweistufige Prüfung gemeint – dieselbe Frage kann unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Entwicklungen und Urteile durchaus anders beantwortet werden und zu einem Rechtsprechungswechsel führen. Dies ist zwar selten, jedoch nicht unüblich. Gemeint ist vielmehr die sonstige Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich Polens Entwicklung in Sachen Justizsystem und Rechtsstaatlichkeit. Nimmt der EuGH, wie er es getan hat, einerseits immer wieder an, dass polnische Regelungen unionsrechtswidrig sind und einige davon erheblich die gerichtliche Unparteilichkeit und Unabhängigkeit gefährden, so ist es ab einem gewissen Punkt widersprüchlich, in Bezug auf die Frage der Gültigkeit des EU-Haftbefehls andererseits doch von einer ausreichenden Unabhängigkeit auszugehen. Fraglich ist, wann dieser Wendepunkt erreicht ist.

Andererseits sprechen auch einige Argumente für das Verbleiben bei der bisherigen Rechtsprechung, also der allgemeinen Gültigkeit des Haftbefehls sowie der grundsätzlichen Vollzugspflicht. Denn so können die eigens aufgestellten Regelungen im Rahmenbeschluss nicht ignoriert werden. Zwar kann begründet werden, dass aufgrund der genannten Mängel die elementaren Grundsätze aus Art. 2 EUV nicht gewährleistet werden. Jedoch bedarf es für die automatische Ablehnung der Vollstreckung ausdrücklich eines Beschlusses des Europäischen Rates. Dieser liegt nicht vor.

Ferner wären die weiteren Folgen einer solchen Annahme immens, da nicht nur das zwischenstaatliche Auslieferungsverfahren aufgrund eines EuHB beeinträchtigt wäre, sondern die gesamte Anwendung auch sonstigen Unionsrechts würde denklogischer Weise in Frage gestellt werden müssen. Wenn keine „Gerichte“ mehr vorliegen, die das Unionsrecht anwenden, auslegen und umsetzen könnten, so ergibt sich daraus die weitere Folgefrage, ob und wie Polen weiterhin fähig sein soll, noch Teil der europäischen Wertegemeinschaft zu bleiben. Es wären mithin erhebliche zwischenstaatliche Konflikte zu erwarten, die wiederum von politischem Interesse und politischer Relevanz sind. Gerade diese Relevanz ist jedoch zugleich auch wieder problematisch – so sollen justizielle Entscheidungen ja gerade frei von politischem Interesse sein. Ein Teufelskreis?


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