Ein Auslieferungsverfahren, das von einem Drittstaat initiiert wurde, aber einen Unionsbürger betrifft, zeichnet sich durch eine enorme juristische Komplexität aus. Hier sind – wie das Urteil des Europäischen Gerichtshof aus dem Jahre 2017 deutlich macht – die durch die Unionsbürgschaft verbürgten Rechte stets in Betracht zu ziehen.

Art. 20 Abs. 1 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) bestimmt, dass alle Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaats zusätzlich die Unionsbürgerschaft besitzen. Diese bringt einige Vorteile mit sich: Unter anderem sieht Art. 21 AEUV ein Recht auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit von Unionsbürgern vor. Das bedeutet, dass Bürger der EU-Mitgliedstaaten ihren Wohn- oder Aufenthaltsort in jedem anderen Mitgliedstaat begründen können. Ein weiteres Recht der Unionsbürgerschaft ist in Art. 18 AEUV statuiert, welches jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet.

Mit diesen Rechten der Unionsbürgerschaft hatte sich der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil im Fall Petruhhin (NJW 2017, 378) zu beschäftigen. Der Fall handelt von einem Auslieferungsersuchen, das die russischen Behörden in Bezug auf Herrn P., einem estnischen Staatsangehörigen, im Zusammenhang mit der ihm vorgeworfenen Straftat des Handels mit Betäubungsmitteln an die lettischen Behörden gerichtet haben. Herr P. war auf der Website von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Er wurde in Lettland festgenommen und kam in Untersuchungshaft. Herr P. wollte seine Auslieferung verhindern und berief sich auf das lettische Recht und ein Abkommen, das die Auslieferung eigener Staatsbürger nach Russland grundsätzlich verbietet. Für estnische Staatsangehörige, die in Lettland leben, gilt dieser Vorbehalt jedoch nicht.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied, dass ein Mitgliedstaat nicht dazu verpflichtet ist, alle (anderen) Unionsbürger, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, in gleichem Maße vor einer Auslieferung zu schützen wie seine eigenen Staatsangehörigen. Er entschied jedoch darüber hinaus auch, dass ein Mitgliedstaat, an den ein Auslieferungsersuchen für einen Unionsbürger mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats, der sich in seinem Hoheitsgebiet aufhält, gerichtet wird, diesen anderen Mitgliedstaat zunächst darüber zu informieren hat, bevor er dem Auslieferungsersuchen nachgeht. In diesem Fall hätte also Lettland die estnischen Behörden informieren müssen.

Zudem muss der Mitgliedsstaat, in dem sich der Unionsbürger aufhält (Lettland), auf Ersuchen des Mitgliedsstaates, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt (Estland), diesem den Unionsbürger im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2002/5843 übergeben, sofern dieser Mitgliedstaat (Estland) für die Verfolgung des Unionsbürgers wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist.

Rechtsberatung im Ausländerrecht

Schlun & Elseven Rechtsanwälte berät Privatpersonen und Unternehmen im Auslieferungsrecht. Unsere Anwälte für deutsches Auslieferungsrecht sind telefonisch und per E-Mail erreichbar und bieten auch Videokonferenzen an. Für weitere rechtliche Informationen besuchen Sie bitte unsere Rechtsanwalt für Auslieferungsrecht Seite.

Welche Konsequenzen hat das EuGH-Urteil im Fall Petruhhin für Auslieferungsverfahren in Deutschland?

Deutschland ist Mitgliedstaat der Europäischen Union, sodass deutsche Gerichte in Rechtsfragen, die denselben Gegenstand betreffen, an die Entscheidungen des EuGHs gebunden sind. Das bedeutet für Unionsbürger, die in Deutschland dauerhaft leben oder sich dort auch nur vorübergehend aufhalten, dass im Falle eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaates Deutschland verpflichtet ist, den Unionsbürger nicht direkt an das ersuchende Land auszuliefern, sondern den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, zu kontaktieren und diesem den Vorzug zu geben. Sofern dieser Mitgliedsstaat ein entsprechendes Auslieferungsersuchen stellt, hat Deutschland den betroffenen Unionsbürger an diesen Staat zu überstellen.


Unter welchen Voraussetzungen erfolgt die Auslieferung an den Mitgliedstaat?

Der betroffene Unionsbürger muss im Einklang mit dem Rahmenbeschluss (Rb) 2002/584 dem Mitgliedstaat übergeben werden, sofern der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, für die Verfolgung des Unionsbürgers wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist.

Der zitierte Rahmenbeschluss setzt jedoch die Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls durch den Ausstellerstaat voraus.

Der Europäische Haftbefehl kann nicht aufgrund jeder Handlung erlassen werden. Diese Handlungen müssen nach dem Recht des Ausstellungsstaates entweder mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestensMaßregel der Sicherung angeordnet worden sein, so muss diese zumindest einen Zeitraum von 4 Monaten umfassen (Art. 2 I Rb).

Darüber hinaus gilt der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit. Die Übergabe der betroffenen Person kann demnach davon abhängig gemacht werden, dass der um Auslieferung ersuchte Mitgliedsstaat die Handlung, deretwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, ebenfalls 12 Monaten bedroht sein (Art. 2 I Rb). Sollte die betroffene Person bereits zu einer Strafe verurteilt worden sein, oder eine freiheitsentziehende unter Strafe stellt.

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sieht der Rahmenbeschluss bei 32 Straftaten bzw. Deliktsbereichen vor, bei deren Vorliegen die Auslieferung mithin auch dann erfolgen muss, wenn die Tat nach dem Recht des ausliefernden Staates nicht unter Strafe steht (Art. 2 Abs. 2).

Zu diesen Straftaten zählen u. a.:

  • die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung,
  • Terrorismus,
  • Menschenhandel und Organhandel,
  • sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie,
  • Drogenhandel sowie illegaler Handel mit Waffen, Munition und Sprengstoffen,
  • Korruption, Betrug und Geldwäsche,
  • Fälschung von Geld und anderen Zahlungsmitteln,
  • Cyberkriminalität,
  • Umweltkriminalität,
  • Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt,
  • vorsätzliche Tötung und schwere Körperverletzung,
  • Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme,
  • Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,
  • Erpressung und Schutzgelderpressung,
  • Nachahmung und Produktpiraterie,
  • Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit,
  • Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen,
  • Vergewaltigung,
  • Brandstiftung.

Im Übrigen verwies der Gerichtshof darauf, dass ein grundsätzlicher Schutz vor der Auslieferung an solche Staaten bestehe, in der die Todesstrafe, Folter oder eine andere unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohe (Verstoß gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention).


Ist das Urteil im Fall Petruhhin auch auf Nicht-EU-Bürger anwendbar?

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 02.04.2020 – C-897/19 PPU festgestellt, dass die im Urteil Petruhhin ausgelegten Art. 18 AEUV (Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit) und Art. 21 AEUV (Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit von Unionsbürgern) nicht anwendbar sind, wenn es sich bei den Betroffenen nicht um einen Unionsbürger handelt. Im Fall eines isländischen Staatsangehörigen hat der EuGH hingegen entschieden, dass das Unionsrecht auch anwendbar sei, da Island Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) sei, welches mit den EU-Staaten geschlossen wurde. Damit sei dieses Abkommen ebenfalls integraler Bestandteil des Unionsrechts. Daneben gehöre der Drittstaat Island nicht nur zum Schengen-Raum, sondern beteilige sich auch am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und habe mit der Union ein Übereinkommen über das Übergabeverfahren geschlossen.
Der Gerichtshof hat damit für Auslieferungsfälle von Staatsangehörigen der EFTA-Staaten (Island, Liechtenstein, Norwegen) entschieden, dass dem Informationsaustausch mit dem EFTA-Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, der Vorzug zu geben sei, um ihm Gelegenheit zu geben, ein Ersuchen auf Übergabe seines Staatsangehörigen zum Zweck der Strafverfolgung zu stellen. Da der Rahmenbeschluss 2002/584 nicht für Island gelte, komme eine Übergabe auf der Grundlage des Übereinkommens über das Übergabeverfahren in Betracht, dessen Bestimmungen denen des Rahmenbeschlusses sehr ähnlich seien.


Schlun & Elseven: Ihr Rechtsbeistand im Auslieferungsrecht

Sie sind von einem Auslieferungsersuchen betroffen?

Als multidisziplinäre Full-Service-Kanzlei, zu deren Tätigkeitschwerpunkten das Auslieferungsrecht gehört, stehen wie Ihnen rund um die Uhr zur Verfügung und unterstützen Sie in jeder Lage. Rufen Sie uns ganz einfach unter +49 241 4757140 an oder senden Sie uns eine Nachricht per E-Mail an info@se-legal.de oder nutzen Sie unser Online-Kontaktformular.