Soll gegen einen EU-Inländer, der gleichzeitig als „Ausländer“ im Sinne des deutschen Rechts gilt, Untersuchungshaft angeordnet werden, ergeben sich hier klare Grenzen für die Möglichkeiten der Strafverfolgung. Aus dem Diskriminierungsverbot folgt nämlich, dass der Wohnsitz in einem anderen Unionsstaat allein die Fluchtgefahr nicht begründen kann.

Das Landgericht Aachen hat Anfang März 2019 in einem von unserer Kanzlei geführten Verfahren einen Untersuchungshaftbefehl gegen einen EU-Bürger aufgehoben, der seinen Wohnsitz und seinen Lebensmittelpunkt in Großbritannien hat. Damit wandte es sich gegen einen vorangegangenen Beschluss des Amtsgerichts Aachen.

Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

Die Untersuchungshaft kann in Deutschland nur dann angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen von § 112 StPO erfüllt sind. In Absatz 1 heißt es:

„Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht.“

Gegen den Beschuldigten muss also zum einen ein dringender Tatverdacht vorliegen, der immer dann angenommen werden kann, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte die Straftat begangen hat. Zum anderen muss auch ein Haftgrund vorliegen, der sich nach § 112 Absatz 2 StPO richtet. Haftgründe sind:

  • Flucht und Fluchtgefahr
  • Verdunkelungsgefahr
  • Wiederholungsgefahr: bei dringendem Tatverdacht bezüglich der (wiederholten) Begehung von Straftaten der §§ 112a Abs. 1 Nr. 1, 2 StPO.
  • Strafen der Schwerkriminalität: bei dringendem Tatverdacht bezüglich der Straftaten aus § 112 Abs. 3 StPO und nicht auszuschließendem Verdacht einer Flucht, Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr.

Die Anordnung der Untersuchungshaft muss zuletzt auch verhältnismäßig sein und darf folglich nicht erfolgen, wenn die Freiheitsentziehung zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht.

Das Amtsgericht Aachen hatte die gegen den Haftbefehl eingelegte Beschwerde mit der Begründung abgelehnt, dass bei dem Beschuldigten ein erheblicher Fluchtanreiz vorliege. Dieser lasse sich zu einem Teil auf den Umfang des durch das Delikt entstandenen Schadens zurückführen – es handelt sich um einen Fall der Steuerhinterziehung in Millionenhöhe. Entscheidend sei aber, dass keine familiären, sozialen oder sonstigen Umstände einer Flucht entgegenstünden. Der Beschuldigte habe keinerlei Beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland, sondern lebe in Großbritannien und habe Beziehungen nach Rumänien. Das Amtsgericht ging daher nicht davon aus, dass der Beschuldigte sich künftig dem Strafverfahren stellen und hierzu nach Deutschland reisen würde.
Das Landgericht hingegen teilte diese Einschätzung nicht, sondern verfügte unter Berücksichtigung der von der Verteidigung angeführten Argumente, dass der Haftbefehl unter Auflagen aufzuheben sei.

Die Haftgründe der Flucht und Fluchtgefahr liegen demnach nicht bereits deshalb vor, weil der Beschuldigte seinen Wohnsitz bzw. seinen Lebensmittelpunkt im EU-Ausland hat.

Haftgründe: Flucht und Fluchtgefahr

Was unterfällt aus juristischer Sicht den Begrifflichkeiten der Flucht und der Fluchtgefahr?

Flucht: der Beschuldigte ist flüchtig oder hält sich verborgen, sodass er dem Zugriff der Ermittlungsbehörden, Gerichte und Strafvollstreckungsbehörden entzogen ist

Fluchtgefahr: es ist überwiegend wahrscheinlich, dass der Beschuldigte sich dem Zugriff der Ermittlungsbehörden, Gerichte und Strafvollstreckungsbehörden entziehen wird

Flucht: Eine Flucht wird angenommen, wenn der Beschuldigte tatsächlich flüchtig ist oder sich verborgen hält, sodass er dem Zugriff der Ermittlungsbehörden, der Gerichte und Strafvollstreckungsbehörden entzogen ist. Als flüchtig wird eingestuft, wer sich von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Wer sich jedoch ins Ausland begibt, ohne dass dies mit der Straftat in Zusammenhang steht, ist nicht als flüchtig einzustufen. Zu dieser Einschätzung gelangten bereits das OLG Brandenburg und das OLG Bremen (OLG Brandenburg, Beschluss v. 17.01.1996 – 2 Ws 183/9; OLG Bremen, Beschluss v. 12.06.1997 – Ws 42/97 (BL 62/97).
Der Beschuldigte in unserem Fall, ein rumänischer Staatsangehöriger, war bereits vor Aufnahme der Ermittlungen im Strafverfahren nach Großbritannien gezogen. Er hatte dort eine Familie gegründet und sich im Laufe der Jahre eine berufliche Existenz aufgebaut. Er verfügte dort also über einen festen Wohnsitz sowie eine ladungsfähige Anschrift und hielt sich auch nicht verborgen.

Fluchtgefahr: Eine Fluchtgefahr besteht, wenn es überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Beschuldigte sich dem Zugriff der Ermittlungsbehörden, der Gerichte und Strafvollstreckungsbehörden entziehen wird. Der Umstand allein, dass jemand – auch ein Ausländer – seinen Wohnsitz im Ausland hat und demgemäß über keine tragfähigen sozialen Bindungen im Inland verfügt, vermag eine Fluchtgefahr nicht zu begründen (OLG Oldenburg, Beschluss v. 25.06.2009 – 1 Ws 349/03). Wer sich ohne Fluchtwillen ins Ausland begibt, ist nur fluchtverdächtig, wenn er erklärt, er werde sich dem Verfahren in Deutschland nicht stellen.

Eine solche Erklärung oder Andeutung hatte es von Seiten unseres Mandanten zu keinem Zeitpunkt gegeben. Somit konnte in diesem Fall weder eine Flucht noch eine Fluchtgefahr nach deutschem Rechtsverständnis rechtmäßig angenommen werden.

Europarechtliche Vorschriften

Die vom Amtsgericht vertretene Gegenauffassung steht darüber hinaus nicht in Einklang mit europarechtlichen Vorschriften. Konkret verstößt sie gegen Art. 18 AEUV und Art. 21 AEUV.

Art. 18 Abs. 1 AEUV lautet: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“

Diese Vorschrift verbietet also jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in seinem Anwendungsbereich. Innerhalb eines EU-Mitgliedsstaats sollen Inländer und EU-Ausländer demnach grundsätzlich gleich behandelt werden. Art. 18 AEUV erfasst dabei nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch mittelbare Diskriminierungen, die nicht direkt an die Staatsangehörigkeit, sondern etwa an Wohnsitz, Herkunft oder Sprache geknüpft sind. Im Fall eines EU-Bürgers eine Fluchtgefahr zu bejahen, nur weil dieser – anders als deutsche Staatsbürger gewöhnlicherweise – seinen Wohnsitz im Ausland hat, hieße jedoch, EU-Ausländer gegenüber Deutschen systematisch zu benachteiligen und stellt somit einen Verstoß gegen Art. 18 AEUV dar.
Art. 21 Abs. 1 AEUV lautet: „Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“

Diese Vorschrift gewährt als spezielle Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbots das Recht auf Freizügigkeit, d.h. die Befugnis, sich im gesamten Gemeinschaftsraum frei zu bewegen und aufzuhalten und am Ort des gewählten Wohnsitzes so behandelt zu werden wie ein Inländer. Durch die Bejahung einer Fluchtgefahr erfolgt somit auch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit eine Verletzung dieser Vorschrift.

Darüber hinaus spricht ebenfalls gegen die Annahme einer Fluchtgefahr, dass im Ernstfall die Möglichkeit besteht, einen Europäischen Haftbefehl zu erwirken.

Europäischer Haftbefehl

Der Europäische Haftbefehl erlaubt die EU-weite Durchsetzung eines nationalen Haftbefehls. Das um Auslieferung ersuchte Land darf die Rechtmäßigkeit des nationalen Haftbefehls des ausstellenden Mitgliedsstaates vor der Auslieferung grundsätzlich nicht nachprüfen, wodurch sich die Auslieferung von Verdächtigen und Straftätern erheblich vereinfacht.

Eine Auslieferung eines Ausländers, der im EU-Ausland wohnt, kann damit unproblematisch durchgesetzt werden, sofern keine Auslieferungshindernisse ersichtlich sind. Demnach besteht keine Notwendigkeit, die zwingende Anwesenheit des Beschuldigten im Inland zu sichern.

Der Beschluss des Landgerichts Aachen ist zu begrüßen. Zum einen berücksichtigt er europarechtliche Vorschriften in angemessenem Maße. Zum anderen trägt er dem Umstand Rechnung, dass die innerhalb der EU geschaffene Mobilität und Flexibilität auf eine zunehmende Internationalisierung des Arbeitsmarkts sowie auch der modernen Gesellschaft abzielt. Wo Wohnortswechsel innerhalb der Union immer gängiger und EU-Auslandsaufenthalte zur Normalität werden, darf die Errichtung eines Lebensmittelpunkts im EU-Ausland nicht allein ausreichendes Indiz für eine Fluchtgefahr im Strafverfahren sein.