Im öffentlichen Diskurs in Deutschland ist die Debatte um die Auslieferung von ukrainischen und russischen Kriegsdienstverweigerern unlängst angekommen. Auslöser der Debatte war die Aussage des Politikers David Arakhamia im ukrainischen Parlament, dass die Auslieferung von Personen, die sich in rechtswidriger Gestalt dem Kriegsdienst entzogen hätten, möglich sei.

Rechtlich gestaltet sich in Deutschland die Auslieferung von ukrainischen oder russischen Kriegsdienstverweigerern deutlich schwerer, da das geltende Recht hohe Anforderungen an eine Auslieferung stellt.

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Der internationale Haftbefehl gegen Kriegsdienstverweigerer – Erlass einer Red Notice

Zunächst müssten die Strafverfolgungsbehörden der Ukraine bzw. Russland einen nationalen Haftbefehl gegen den Kriegsdienstverweigerer erlassen und den Haftbefehl international ausschreiben (Erlass einer Red Notice beantragen). Im Gegensatz zum Europäischen Haftbefehl kann dieser nicht unmittelbar vollstreckt werden, sodass zwischen der Frage nach dem Haftbefehl und der Frage nach der Auslieferung zu differenzieren ist. Die Voraussetzungen der nachgelagerten Auslieferung werden durch die Behörden der Bundesrepublik geprüft.

Ein Europäischer Haftbefehl kann in Ermangelung einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union weder von der Ukraine noch von Russland beantragt werden.


Ist eine Auslieferung von Kriegsdienstverweigerern möglich?

Auf der Grundlage eines nationalen Haftbefehls und einer Red Notice von Interpol ist eine Auslieferung von Kriegsdienstverweigerern in die Ukraine/nach Russland grundsätzlich möglich, wenn die Voraussetzungen der Auslieferung vorliegen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ebenfalls wie die Ukraine und Russland Vertragspartei des Europäischen Auslieferungsübereinkommen (kurz: EuAlÜbk). In dieser Konsequenz richten sich die Voraussetzungen nach dem EuAlÜbk und den Zusatzprotokollen.

Diese Regelungen stellen strenge Anforderungen an die Auslieferung in formeller und materiell-rechtlicher Hinsicht.

Von überragender Wichtigkeit sind hier die materiell-rechtlichen Voraussetzungen. Dabei insbesondere das Prinzip der Gegenseitigkeit und die beiderseitige Straf- und Verfolgbarkeit der gegenständlichen Tat.

Das Prinzip der Gegenseitigkeit setzt die begründete Erwartung voraus, dass der ersuchende Staat in einem vergleichbaren Fall auch ausliefern würde. Im Rahmen des EuAlÜbk ergibt sich dies bereits aus den bestehenden wechselseitigen Vertragspflichten.

Die wichtigste materiell-rechtliche Voraussetzung ist jedoch das Vorliegen einer beiderseitigen Straf- und Verfolgbarkeit gem. Art. 2 Abs. 1 EuAlÜbk.

Dieser Grundsatz besagt, dass die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Straftat nach dem Recht des ersuchenden Staates und dem Recht des ersuchten Staates strafbar sein muss.

Hier ist die Tat im prozessualen Sinne maßgebend. Der Lebenssachverhalt des Auslieferungsgesuches muss also nach deutschem Recht strafbar sein.

Dies ist im Zusammenhang mit Kriegsdienstverweigern rechtlich durchaus unklar.

Hinsichtlich der Entziehung des Kriegsdienstes kommen in Deutschland dabei verschiedene Delikte in Betracht. Insbesondere solche des Wehrstrafrechts.


Fahnenflucht nach dem Wehrstrafgesetzbuch

Das Wehrstrafgesetzbuch stellt Fahnenflucht in § 16 unter Strafe. So heißt es in Abs. 1, dass „wer eigenmächtig seine Truppe oder Dienststelle verlässt oder ihr fernbleibt, um sich der Verpflichtung zum Wehrdienst dauernd oder für die Zeit eines bewaffneten Einsatzes zu entziehen oder die Beendigung des Wehrdienstverhältnisses zu erreichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft [wird].“

Entziehung/Verweigerung des Grundwehrdienstes

Die Pflicht zum Wehrdienst ist in § 1 Wehrpflichtgesetz (kurz: WPflG) verankert. Diese ist in Deutschland jedoch seit März 2011 ausgesetzt.

Gem. § 2 WPflG gelten die weiteren Vorschriften Wehrpflichtgesetzes ausschließlich im Spannungs- und Verteidigungsfall. Dieser liegt in Deutschland nicht vor, jedoch herrscht in der Ukraine eine Sachlage vor, welche durchaus als Verteidigungsfall im Sinne des Art. 115a Abs. 1 GG ausgelegt werden kann.

Beiderseitige Strafbarkeit

In dieser Konsequenz erscheint es durchaus möglich, dass hinsichtlich der Kriegsdienstverweigerung eine beiderseitige Strafbarkeit vorliegt.

Jedoch:

Der Grundwehrdienst in Deutschland ist zwar grundgesetzlich verankert. Nach Art. 12a Abs. 1 „[können] Männer vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.

Dennoch kennt das Grundgesetz der Bundesrepublik keine Pflicht zum Dienst an der Waffe. Art. 4 Abs. 3 S. 1 GG besagt, dass „Niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden [darf].

Eine derartige verfassungsrechtliche Verankerung kennt die ukrainische Verfassung nicht.

In der Ukraine dürfen ausschließlich Mitglieder zehn kleiner religiöser Gemeinschaften den Kriegsdienst verweigern (vgl. Kurzinformation der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages „Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine“, WD 2 – 3000 – 127/14).

Aufgrund der ausgesetzten Wehrpflicht und aufgrund des stark eingeschränkten Grundrechts auf die Verweigerung des Dienstes an der Waffe ist die beiderseitige Strafbarkeit im Sinne der EuAlÜbk aus unserer Sicht mehr als fraglich.


Grundsätzlich keine Auslieferung von ukrainischen Kriegsdienstverweigerern aufgrund fehlender Auslieferungsvoraussetzungen?

Diese Frage ist zu verneinen!

Ukraininische Kriegsdienstverweigerer können beim Verlassen der Truppe bzw. bei der Ausreise aus dem Land andere Straftatbestände verwirklichen. So können etwa gefälschte Marschbefehle (§ 267 StGB), Ausweispapiere (§ 281 StGB) oder auch Gesundheitszeugnisse (§ 279 StGB) genutzt werden, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen. In diesen Fällen läge jedenfalls die beiderseitigen Straf- und Verfolgbarkeit vor.

Auslieferungshindernis des Art. 4 EuAlÜbk

Trotz der Unsicherheit hinsichtlich der Auslieferungen aufgrund beiderseitiger Straf- und Verfolgbarkeit wird regelmäßig das Auslieferungshindernis des Art. 4 EuAlÜbk bestehen.

Gem. Art. 4 EuAlÜbk ist das Übereinkommen „auf die Auslieferung wegen militärischer strafbarer Handlungen, die keine nach gemeinem Recht strafbaren Handlungen darstellen, […] nicht anwendbar.“

Soweit die Möglichkeit besteht abweichende Regelungen zu erlassen, hat die Bundesrepublik Deutschland hiervon keinen Gebrauch gemacht. Den gesetzgeberischen Willen wegen allein militärischer strafbarer Handlungen keine Auslieferungen vorzunehmen verdeutlich dabei insbesondere die Regelung des § 7 IRG. Diese besagt, dass „die Auslieferung nicht zulässig [ist] wegen einer Tat, die ausschließlich in der Verletzung militärischer Pflichten besteht.“ Außerdem hat der IRG-Gesetzgeber die noch im DAG zu findende Formulierung „nach deutschem Recht“ ersatzlos gestrichen.

Die Frage, ob eine Verletzung „militärischer Pflichten“ vorliegt, obliegt dem ersuchten Staat, also Deutschland. Verfolgt der ersuchende Staat die Tat demnach als eine militärische, so hat dies zumindest Indizwirkung und ist bei der Einordnung zu berücksichtigen.


Verletzung „militärischer Pflichten“

Die Verletzung von militärischen Pflichten richtet sich dabei nach zwei Kernpunkten:

  • Sie muss sich gegen militärische Rechtsgüter richten,
  • Es muss sich um besondere Standesdelikte militärisch verpflichteter Personen handeln.

In dieser Konsequenz können auch Zivildienstleistende militärische Straftaten in diesem Sinne begehen, da die Straftatbestände der §§ 52, 53 ZDG den §§ 15, 16 WStG nachgebildet sind.

Insofern sind nur rein militärische Delikte wie etwa die Fahnenflucht von dem Auslieferungshindernis des Art. 4 EuAlÜbk umfasst.

Bei den rein militärischen Straftaten handelt es sich um derartige Taten, die ausschließlich einen dem gemeinen Strafrecht fremden, auf dem besonderen militärischen Pflichtverhältnis beruhenden Tatbestand erfüllen. Diese sind insbesondere die Abwesenheit (§ 15 WStG) oder die Fahnenflucht (§ 16 WStG).

Gemischt militärisch-gemeine Straftaten oder auch konnex-militärische Straftaten sind von dem Auslieferungshindernis nicht umfasst.

Dabei meint der Begriff der gemischt militärisch-gemeinen Straftaten solche, die nach dem allgemeinen Strafrecht strafbar wären, jedoch im militärischen Kontext zu besonderen Tatbeständen umgeschaffen worden sind.

Eine Kriegsdienstentziehung, welche durch eine Nötigung (§ 240 StGB), Urkundenfälschung (§ 267 StGB) oder ähnliches ermöglicht wurde, bleibt damit auslieferungsfähig.


Auslieferungen nach Russland aufgrund von Kriegsdienstverweigerung

Im Gegensatz dazu sind Auslieferungen aus Deutschland an Russland deutlich unwahrscheinlicher. Am 16.03.2022 hat Russland den Europarat verlassen. Mit dem Wirksamwerden der Beendigung der Mitgliedschaft endet auch die Mitgliedschaft von Russland in der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Mitgliedschaft in ihren von Russland ratifizierten Protokollen.

Im Gegensatz dazu verbleibt Russland Vertragspartei von sog. „offenen Konventionen“. Diese bezeichnen die Konventionen, welche neben den Mitgliedern des Europarates auch Nichtmitgliedern offen stehen. Gem. Art. 30 Abs. 1 EuAlÜbk „kann [das Ministerkomitee] jeden Staat, der nicht Mitglied des Europarats ist, einladen, diesem Übereinkommen beizutreten.“ Die Mitgliedschaft hat Russland bis dato nicht gem. Art. 31 EuAlÜbk gekündigt. Auslieferungen auf der Grundlage des Europäischen Auslieferungsabkommens bleiben damit theoretisch möglich, unterliegen dabei jedoch zumindest obigen Anforderungen.

In der Praxis sind nach derzeitigem Kenntnisstand Auslieferungen an Russland ausgesetzt.

Dennoch: die politische Situation unterliegt gegenwärtig starken Schwankungen und Einzelfälle können sich grundlegend voneinander unterscheiden. Insbesondere kommt es immer auf den Einzelfall und die vorgeworfene Tat an. Insofern kann eine anwaltliche Beratung in diesem Kontext nicht durch diesen Beitrag ersetzt werden.