Die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Ungarn wurde in den letzten Jahren immer stärker erweitert und vertieft. Besonders spürbar wurde dies sicherlich mit dem Beitritt Ungarns zur Nato im Jahre 1999 und dem EU-Beitritt im Jahre 2004. Durch den gemeinsamen Binnenmarkt und die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union nahm seitdem insbesondere der Waren- und Personenverkehr stetig zu, wodurch auch die behördliche Zusammenarbeit klar an Bedeutung gewonnen hat. Im Folgenden erfahren Sie, wie sich diese Zusammenarbeit im Bereich der Auslieferung im strafrechtlichen Sinne gestaltet und was Sie zu beachten haben, sollten Sie von einem Auslieferungsersuchen aus Ungarn betroffen sein.
Auslieferung eigener Staatsbürger
Seit der Einführung des Europäischen Haftbefehls können EU-Mitgliedsstaaten die Auslieferung eigener Staatsbürger nicht ablehnen, es sei denn, sie übernehmen die Vollstreckung der Strafe selbst. Im Grundsatz sind die Staaten also verpflichtet, auch ihre eigenen Staatsbürger auszuliefern.
Rechtliche Regelungen im Auslieferungsverkehr zwischen Ungarn und Deutschland
In Deutschland richten sich Auslieferungen nach den Vorschriften des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG). Nach § 1 Abs. 3 IRG haben internationale Rechtsvorschriften Vorrang vor den Bestimmungen des IRG, soweit sie innerstaatliches Recht geworden sind. Daher richtet sich die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen Ungarn und Deutschland fast ausschließlich nach den Regelungen des Unionsrechts. Die Auslieferung wird im Unionsrecht weitestgehend durch die Bestimmungen zum Europäischen Haftbefehl (EuHb) geregelt. Dieser dient zur vereinfachten Übergabe von gesuchten Personen zum Zwecke der Strafverfolgung oder Vollstreckung einer (Freiheits-)Strafe und ersetzt seit seiner Einführung im Jahre 2004 die bis dahin durchgeführten langwierigen Auslieferungsverfahren. Es gilt das in vielen Bereichen der Europäischen Union geltende Vertrauensprinzip, sprich: Eine Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls basiert ausschließlich auf der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen ohne weitere Prüfung durch den ersuchten Mitgliedstaat und gilt in allen EU-Staaten.
Auslieferungshindernisse
Ein Europäischer Haftbefehl darf nur in einer beschränkten Auswahl an Fällen abgelehnt werden. Zu diesen zählen beispielsweise eine frühere Verurteilung für dieselbe Straftat (nach dem Grundsatz „ne bis in idem“), die Minderjährigkeit der betroffenen Person, Verjährung der Tat oder ein noch laufendes Verfahren im Vollstreckungsstaat. Zudem ist in Bezug auf mögliche Auslieferungshindernisse insbesondere zu beachten, dass die deutschen Behörden stets an den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gebunden sind. Dieser verbietet es der Auslieferung einer Person stattzugeben, beispielsweise dann, wenn es zu befürchten gilt, dass deren Recht auf ein faires Verfahren verletzt werden bzw. die betreffende Person mit menschenunwürdigen Haftbedingungen rechnen müsste. Amnesty International stellte beispielsweise im Jahresbericht 2022/23 fest, dass das Recht auf ein faires Verfahren in Ungarn nicht ausreichend sichergestellt sei, da ein diesbezügliches Urteil des EuGHs seit 2016 nicht umgesetzt wurde, das Recht von Richtern auf freie Meinungsäußerung nicht ausreichend geschützt sei und ein unabhängiges Justizorgan für die Kontrolle von Amtsenthebungen von Richtern fehle. In Bezug auf Auslieferungen nach Ungarn wurden in der Vergangenheit außerdem immer wieder die Haftbedingungen in ungarischen Gefängnissen relevant, weswegen sowohl nach deutscher als auch nach europäischer Rechtsprechung Auslieferungen wiederholt als rechtswidrig angesehen wurden.
Vergangene Rechtsprechung in Bezug auf Auslieferungen nach Ungarn
Ungarn wurde wiederholt für unzureichende Haftbedingungen kritisiert. So gab beispielsweise der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einer Klage von ungarischen Häftlingen statt, die sich gegen überfüllte und zu kleine Zellen sowie mangelnde Hygienebedingungen in ungarischen Gefängnissen richtete. Der EGMR sprach den Häftlingen letztlich Entschädigungssummen von bis zu 26.000€ zu. Später stoppte der EuGH eine Auslieferung von Deutschland nach Ungarn mit einem Urteil im Jahre 2016 auf Antrag des OLG Bremens vorläufig unter Verweis auf „die echte Gefahr“, dass der Betroffene in ungarischen Gefängnissen „unmenschlich oder erniedrigend“ behandelt werden würde. Die deutschen Behörden hätten daher im Vorfeld der Auslieferung alle notwendigen Informationen zu den Haftbedingungen zu erbitten und könnten, im Fall, dass diese nicht in einem angemessenen Zeitrahmen vorlägen, selbstständig über die Genehmigung der Auslieferung entscheiden. Das Urteil ist insofern beachtlich, als dass sich der EuGH somit selbst gegen das dem EuHb zugrunde liegende Prinzip des gegenseitigen Vertrauens richtet. Dieser erlaubt es den Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht, einen von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Haftbefehl vorab zu prüfen, sondern sieht die automatische Vollstreckung des Haftbefehls vor.
Eine relevante Entscheidung von einem deutschen Gericht gab es unter anderem im Jahr 2020 vom OLG Bremen (Beschl. v. 16.03.2020 – 1 Ausl. A 78/19). Zwar hatte Ungarn nach dem Urteil des EuGH von 2016 und einem Bericht des CPT (European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment), wonach die Haftbedingungen in Ungarn nicht den europäischen Mindeststandards entsprachen, eine Verbesserung der Haftbedingungen zugesagt und bauliche Erweiterungen der Haftanstalten veranlasst. Allerdings stellte das OLG Bremen in seinem Urteil fest, dass die Erweiterungen der Gefängnisse unzureichend seien und die von Ungarn getroffenen Zusagen bezüglich einer Verbesserung der Haftbedingungen daher nicht eingehalten worden seien. Anders entschieden hat hingegen das OLG Celle. In seinem Urteil vom 21.07.2021 (2 AR (Ausl) 40/21) stellt das Gericht fest, dass „keinerlei konkrete Anhaltspunkte mehr dafür [bestehen], dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt in Ungarn gegen Art. 4 der Charta verstoßen.“
Insgesamt lässt sich allerdings eindeutig festhalten, dass ungenügende Haftbedingungen in ungarischen Gefängnissen immer wieder ein Problem darstellen. Inzwischen gingen mehr als 450 Beschwerden beim EGMR ein, und auch anderen Gerichte entschieden immer wieder zugunsten von Betroffenen. Bei einer drohenden Auslieferung nach Ungarn ist eine genaue rechtliche Prüfung des Sachverhalts sowie der Umstände, die eine Person vor Ort gegebenenfalls zu erwarten hat, daher unerlässlich. Eine erfahrene Rechtsvertretung vermag in solchen Fällen einen entscheidenden Unterschied im Ausgang des Verfahrens zu bewirken.
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